Banaler Tatort oder Horrorerlebnis?
Warum alles eine Frage der Sichtweise ist

„Sie müssten hier mal vorbeikommen, es sieht ziemlich wüst aus“, so meldete sich eine Dame bei uns, um uns mit einem Auftrag zu betrauen. Mein erster Schritt war es zu hinterfragen, was uns denn erwartet, schließlich hat jeder eine andere Auffassung von „wüst“. Für mich ist es natürlich wichtig, im Vorfeld zu wissen auf welche Reinigungsleistung wir uns einzustellen haben. So richtig wollte die Dame mit der Sprache nicht rausrücken – nur so viel, es war keine Leiche im Spiel, sah aber so schlimm aus, dass sie es alleine nicht schaffen würde und auch ihrer Putzfrau die Reinigung nicht zumuten wollte … 

Vor Ort angekommen, staunten wir nicht schlecht. Ein wunderschönes Anwesen mit Bungalow erwartete uns, ein toll angelegter Garten, eine futuristische Glastreppe, die als Aufgang diente, eine moderne Steinwand mit Tiefgarage – in diesem Umfeld war mir klar: hier musste ein Einbruch stattgefunden haben. Eine adrett gekleidete, sehr gepflegte ältere Dame öffnete uns die Haustür und begrüßte uns freundlich. Sie war sehr zierlich, nur etwas über 1,60 Meter groß und machte einen äußerst sympathischen Eindruck. „Ich gehe mal davon aus, dass hier eingebrochen wurde“, sagte ich zu ihr. Sie verneinte das nicht sofort, stimmte aber auch nicht zu, sondern bat uns herein. In den großen, lichtdurchfluteten Räumlichkeiten empfing uns ein Chaos: viele Gegenstände lagen verstreut und teilweise kaputt auf dem Boden, Glasvitrinen waren zerschlagen worden, die vielen Glastüren im Bungalow waren fast allesamt zu Bruch gegangen, es befanden sich auch kleine Blutspuren am Boden. Das waren keine typischen Einbruch-, sondern eher Kampfspuren… 

Strafe muss sein

Die Dame berichtete jetzt doch sehr offen davon, was geschehen war. Sie sagte, dass nicht eingebrochen wurde, sondern, dass ihr Mann es verdient hatte, eine Strafe zu bekommen. Die beiden waren als selbständige Architekten tätig und arbeiteten gemeinsam in einem Büro, sie hatte sich in den letzten Jahren immer mehr aus dem Business zurückgezogen und hegte jetzt bereits monatelang den Verdacht, dass etwas nicht stimmte. Ihr Mann kam oft spät nach Hause, arbeitete an ihr nicht bekannten Projekten, die sich immer mehr in die Länge zogen und war auch zu ungewöhnlichen Arbeitszeiten im Einsatz. Ihr Misstrauen wuchs soweit, dass sie das Handy und den Computer ihres Mannes zu kontrollieren begann – und tatsächlich fündig wurde. „Spatz, du müsstest mal nach dem Fax von Kunde XY sehen“, „Wir sollten uns unbedingt mal darüber unterhalten, unsere Arbeit in gewissen Projektbereichen zu vertiefen“, das waren nur zwei Beispiel-SMS, die sie auf dem Handy des Gatten zu lesen bekam.

Die Indizien sprachen klar für eine Affäre, zumal die Rufnummer auch noch die private Nummer der Sekretärin war – welch ein Klischee. Auch die Dame kannte die Sekretärin gut, denn diese arbeitete schon jahrelang mit den beiden Architekten zusammen. Dann folgte der dramatische Abend. Wieder einmal sehr spät kam der Mann nach Hause und sie stellte ihn zur Rede. „Schatz, du musst dir wirklich keine Gedanken machen, es ist alles gut.“ Eigentlich eine positive Antwort, doch in diesem Moment sind ihre Gefühle übergekocht, die aufgestaute Wut explodierte wie eine Bombe und die Dame erzählte mir, dass sie sich in diesem Augenblick selbst gar nicht wiedererkannt hat. Schnurstracks lief sie in die Garage, holte einen Golfschläger aus der Tasche und ging auf ihren Mann los. Sie jagte ihn durchs ganze Haus, schlug alles kurz und klein und nach der heftigen Auseinandersetzung musste ihr Mann sogar verletzt ins Krankenhaus. Zum Zeitpunkt unseres Besuches war er immer noch stationär aufgenommen. 

Meistens kommt es anders … 

als man denkt. So auch in diesem Fall. Als die Damen uns ihre Geschichte erzählte, fing sie mit einem Mal an, heftig zu weinen. Ihr tat es wahnsinnig leid, wie sie ausgerastet war und sogar ihren Mann verletzte. Da ich grundsätzlich sehr an Menschen interessiert bin und die Frau sehr offen war, fragte ich auch in diesem Fall freundlich nach, wie denn die Geschichte ausgegangen sei. Unter Schluchzen sagte die Dame: „Mein Mann war unschuldig.“ Doch das habe sie erst im Nachhinein herausgefunden. Die besagte Sekretärin war schon jahrelang glücklich in einer lesbischen Beziehung, von der niemand wusste. Die Kosenamen und der sehr vertraute Umgang hatten sich über die lange und intensive Zusammenarbeit so eingebürgert und vor allem als die Ehefrau sich mehr und mehr aus dem Unternehmen zurückzog, hat sich der Umgangston auf die Sekretärin übertagen. Es gab also überhaupt keinen Anlass zur Sorge. 

 

Ohne Vertrauen keine Beziehung 

Jeder, der in einer Partnerschaft ist, kennt vielleicht das ungute Gefühl, das einen hin und wieder beschleicht, wenn es um Vertrauen geht. Meine Sichtweise ist, dass nur Menschen, denen wir bedingungsloses Vertrauen entgegenbringen, uns zutiefst verletzen können. Und wir alle haben in gewisser Weise Angst davor, verletzt zu werden, weshalb wir manchmal die Vertrauensfrage stellen. Vertrauen ist essenziell in jeder Beziehung, ob Partner-, Freundschaft oder innerhalb der Familie – wir sind nie davor gefeit, verletzt zu werden. Das Einzige, was wir auf jeden Fall machen sollten, ist den uns wichtigen Menschen Respekt und Vertrauen entgegenbringen, weil es einfach zu einer guten Beziehung dazugehört. Haben wir das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, ist es wichtig, offen darüber zu sprechen und Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, bevor der Golfschläger zum Einsatz kommt. 

Akzeptiere andere Sichtweisen 

Für mich war dieser „Tatort“ nur eine Banalität, für die ältere Dame ein echtes Horrorszenario – es zeigt sich also deutlich, dass jeder Mensch eine andere Sichtweise hat. Schauen zwei Menschen aus dem gleichen Fenster mag der eine denken: „Was für ein schöner Sonnenuntergang“ der andere hingegen „Jetzt wird es schon wieder dunkel.“ Doch egal wie die Sichtweise des anderen Menschen ist, so ist es doch wichtig, diese zu akzeptieren und Verständnis dafür aufzubringen. Ist es für uns in Ordnung, dass unser Gegenüber die Dinge anders sieht oder eine andere Meinung hat, dann macht es uns wesentlich entspannter und hilft uns besser zuzuhören und andere Sichtweisen zu akzeptieren.